Das Endocannabinoid-System bei Tieren (ECS) ist ein eingebautes Balance-System, das dein Tier tagtäglich nutzt – ganz ohne äußere Stoffe. Es besteht aus Botenstoffen (z. B. Anandamid, 2-AG), Empfängern (CB1/CB2-Rezeptoren) und Enzymen (FAAH/MAGL), die alles wieder abbauen. Es hilft dem Körper, sich selbst zu regulieren – zum Beispiel in Nerven-, Immun- und Stoffwechselprozessen. Forschung deutet auf Rollen bei Schmerz, Entzündung, Stress/Angst, Neuroprotektion u. a. hin. Beim Hund sind einige Dinge anders (Stichwort „Static Ataxia“) – deshalb ist Sicherheit so wichtig.
1) Was ist das Endocannabinoid-System (ECS)?
Ein Ordnungssystem für den Körper.
Stell dir das ECS wie einen Regler vor, der ständig nachjustiert, damit körpereigene Prozesse nicht zu viel und nicht zu wenig laufen. Wird zum Beispiel ein Nerv zu aktiv, oder das Immunsystem zu „laut“, greift das ECS regulierend ein.
Warum Tiere ein ECS haben.
Fast alle Tierarten (Ausnahme: Insekten) besitzen ein ECS. Es ist mit dem Nervensystem mitgewachsen, als die Natur komplexere Lebewesen „gebaut“ hat. Das zeigt: Das ECS ist biologisch wichtig, nicht „nice to have“.
Warum du das wissen solltest.
Wenn man das ECS versteht, versteht man besser, warum Stress, Schmerz oder Entzündungen manchmal „aus dem Ruder“ laufen – und welche körpereigenen Mechanismen es gibt, die dagegensteuern.
2) Die drei Bausteine: Liganden, Rezeptoren, Enzyme
a) Endogene Liganden (die „Botschafter“)
- Anandamid (AEA): Wird oft als „Wohlfühl-Molekül“ beschrieben. Es entsteht nach Bedarf und bindet an ECS-Rezeptoren, um Signale zu dämpfen.
- 2-AG: Ebenfalls ein natürlicher Botenstoff. Beide (AEA & 2-AG) sind Fett-ähnliche Moleküle und werden schnell wieder abgebaut.
b) Rezeptoren (die „Empfänger“)
- CB1: Vor allem im Gehirn und Nervensystem, aber auch in anderen Organen. Wenn CB1 „lauscht“ und ein Signal bekommt, wird oft die Neurotransmitter-Freisetzung gebremst – das Nervensystem wird „leiser“.
- CB2: Vor allem auf Immunzellen. Hier geht es um Entzündungs-Regulation: CB2 kann die Ausschüttung bestimmter Botenstoffe des Immunsystems beeinflussen.
c) Enzyme (die „Aufräumer“)
- FAAH baut v. a. Anandamid ab, MAGL v. a. 2-AG.
So bleibt das System beweglich: Signale tauchen auf, wirken kurz – und sind dann wieder weg.
Merksatz: Botschafter senden – Empfänger reagieren – Enzyme beenden. So hält das ECS die Balance.

3) So arbeitet das ECS im Nervensystem (retrograde Signalgebung)
Der Clou: Beim ECS kommt das Stoppsignal von hinten.
Normalerweise sendet die präsynaptische Nervenzelle Signale zur postsynaptischen Zelle. Beim ECS läuft die Bremse retrograd: Die postsynaptische Zelle bildet AEA/2-AG, schickt sie zurück zur präsynaptischen Seite. Dort bremsen sie über CB1 die Freisetzung von Neurotransmittern.
Warum das sinnvoll ist:
So kann eine Zelle, die zu stark gereizt wird, ihrer „Vorgängerin“ sagen: „Bitte etwas weniger senden.“ Ergebnis: Feintuning statt Dauerfeuer.
Kurzlebig & gezielt:
ECS-Signale sind lokal und kurz. Das verhindert, dass das System träge wird – es reagiert situativ.
4) CB1 vs. CB2: Verteilung & Aufgaben – verständlich unterschieden
CB1 (Nervensystem-Spezialist)
- Wo? Hohe Dichte im Gehirn (Kortex, Hippocampus, Basalganglien, Kleinhirn), aber auch in Organen (z. B. Herz, Verdauung).
- Was? Bremst oft über Calcium-Kanäle die Freisetzung klassischer Neurotransmitter – dadurch weniger Übererregung.
- Sicherheitsaspekt: In Bereichen, die Atmung/Herzschlag steuern, gibt es kaum CB1 – ein Grund, warum manche Substanzen am Menschen ein vergleichsweise günstiges Sicherheitsprofil zeigen.
CB2 (Immun-Spezialist)
- Wo? Vorwiegend auf Immunzellen (z. B. in Milz, Lymphknoten).
- Was? Modulation von Zytokinen und Entzündungskaskaden. Vereinfacht: Dämpft überaktive Immunreaktionen, ohne das System „abzuschalten“.
Merke:
CB1 = Nerven-Feintuning | CB2 = Entzündungs-Feintuning.
5) Endocannabinoid-System bei Tieren: Wer hat’s, wer nicht? (Hydra bis Hund)
Breit verteilt:
Vom einfachen Polypen (Hydra) bis zu Säugetieren – überall lassen sich Bausteine des ECS finden. Das zeigt: Das System ist uralt und nützlich.
Die Ausnahme:
Insekten scheinen keine klassischen Cannabinoid-Rezeptoren zu besitzen. Wahrscheinlich hängt das mit ihren Fettsäure-Bausteinen zusammen – ihnen fehlt ein wichtiger Vorläufer der eCBs.
Für dich wichtig:
Für Haustiere wie Hund, Katze, Nager ist das ECS relevant. Unterschiede gibt es aber bei Verteilung und Empfindlichkeit – besonders beim Hund.

6) Hund im Fokus: Besonderheiten, „Static Ataxia“ – was bedeutet das praktisch?
Mehr CB1 an „kritischen“ Stellen:
Beim Hund finden sich sehr viele CB1-Rezeptoren z. B. im Kleinhirn (Koordination) und Hirnstamm. Das macht ihn empfindlicher für bestimmte Reize über dieses System.
„Static Ataxia“ – was ist das?
Eine typische Überreaktion des Hundes auf zu viel psychotrope Reize (z. B. THC): Wackliger Stand, Koordinationsstörungen, Unsicherheit. Das sieht dramatisch aus, ist aber meist reversibel – trotzdem immer ein tierärztlicher Fall.
Was heißt das für den Alltag?
- Prävention: Keine unkontrollierten Experimente.
- Vorsicht mit Substanzen, die auf CB1 stark psychotrop wirken.
- Bei Auffälligkeiten: Ruhig bleiben, Tierarzt kontaktieren.
7) Mögliche Einsatzfelder aus Forschungssicht – verständlich zusammengefasst
Wichtig: Nachfolgend geht es um Forschungsergebnisse und tiermedizinische Grundlagen – keine Heilaussagen. Immer mit Tierärzt*in abklären.
7.1 Schmerz & Sensibilisierung
- Idee dahinter: ECS-Signale können die Reizweiterleitung dämpfen (CB1) und entzündliche Begleitprozesse herunterfahren (CB2).
- Übersetzt: Der Körper versucht selbst, „zu laute“ Schmerzsignale leiser zu machen.
7.2 Entzündung & Immunsystem
- CB2 sitzt auf vielen Immunzellen und kann Zytokine modulieren.
- Zielbild: Nicht „alles unterdrücken“, sondern übertriebene Reaktionen abmildern.
- Praxisnah: Das Immunsystem arbeitet differenzierter, statt dauerhaft „auf 180“.
7.3 Stress/Angst & Endocannabinoid-Tonus
- Tonus = Grundaktivität des ECS.
- Stress kann diesen Tonus absenken, wodurch Anspannung/Unruhe stärker empfunden werden.
- Gedanke: Unterstützt man die körpereigene Regulation, wird das System wieder ausbalancierter.
7.4 Stoffwechsel & Appetit
- Hypothalamus-Achse: CB1-Signale beeinflussen Sättigung/Essverhalten.
- Paradoxe Beobachtung beim Menschen: Trotz „Heißhunger“ neigen regelmäßige Konsumenten teils zu niedrigerem BMI – Stoffwechsel ist komplex.
- Für Tiere: Keine Selbstversuche – immer professionell begleiten lassen.
7.5 Neuroprotektion & Antioxidantien
- Einige körpereigene und pflanzliche Stoffe im ECS-Kontext verhalten sich antioxidativ und können Nervenzellen schützen (Modell-Daten).
- Übersetzt: Oxidativer Stress wird abgefedert, Übererregung gebremst.
7.6 Herz-Kreislauf & Lunge
- Gefäße: Teils Gefäßerweiterung beobachtet; Achtung bei vorgeschädigtem Herzen (ärztlich abklären).
- Lunge: In Modellen wurden Bronchien-Effekte beschrieben. Daraus keine Eigenanwendungen ableiten.

8) Sicherheit & Verträglichkeit – besonders bei Hunden
Grundprinzip: So wenig wie möglich, so viel wie nötig – und nur mit Tierärzt*in.
- Artenunterschiede beachten: Hund ≠ Mensch ≠ Katze.
- Psychotrope Reize (z. B. THC) vermeiden – Risiko für „Static Ataxia“.
- Wechselwirkungen: Der Leberstoffwechsel (z. B. P450-Enzyme) kann beeinflusst werden – wichtig bei Tieren, die Medikamente bekommen.
- Beobachten & dokumentieren: Futter, Verhalten, Schlaf, Aktivität, Verdauung – kleine Änderungen notieren.
- Bei Nebenwirkungen: Sofort absetzen und Tierarzt anrufen.
Warnsignale beim Hund (Beispiele):
Taumeln, Unruhe oder starke Müdigkeit, erweiterte Pupillen, Erbrechen, ungewöhnliches Verhalten. Immer professionell checken lassen.
9) Praxisnah: Checkliste für Tierhalter (einfach & umsetzbar)
- Ziel klären: Was soll besser werden (z. B. Ruhe, Beweglichkeit)?
- Tierärzt*in einbeziehen: Anamnese, mögliche Kontraindikationen, Medikation prüfen.
- Start klein: Wenn überhaupt – dann mit sehr niedriger Dosis beginnen und langsam steigern (ärztlich geführt).
- Dokumentation: Kurzes Tagebuch (Essen, Schlaf, Aktivität, Stimmung, Verdauung).
- Sicher lagern: Außer Reichweite von Tieren & Kindern. Keine „Selbstbedienung“.
- Notfallplan: Nummer der Tierarztpraxis griffbereit.
- Qualität achten: Klare Zusammensetzungen, Chargen und Analysen sind Pflicht – vermeide „anonyme“ Produkte.
- Geduld: ECS-Regulation ist Feinarbeit – „alles oder nichts“ passt hier nicht.
10) FAQ: Die häufigsten Fragen kurz beantwortet
Hat jedes Tier ein ECS?
Fast alle – Insekten bilden die große Ausnahme.
Wofür sind CB1 und CB2 grob zuständig?
CB1: Nervensystem-Feintuning. CB2: Immun-/Entzündungs-Feintuning.
Warum reagieren Hunde empfindlicher?
Sie besitzen viel CB1 in Bereichen, die Koordination steuern – daher kann es bei Überreizung zu „Static Ataxia“ kommen.
Ist das ECS „immer aktiv“?
Ja, aber die Aktivität schwankt – je nach Bedarf. Das nennt man Endocannabinoid-Tonus.
Kann ich bei meinem Tier einfach etwas ausprobieren?
Nein. Immer erst tierärztlich klären (Art, Gewicht, Vorerkrankungen, Medikamente).
11) Fazit
Das Endocannabinoid-System ist bei Tieren kein Trend, sondern Biologie pur: Ein eingebautes Gleichgewichts-System, das Nerven-, Immun- und Stoffwechselprozesse feinreguliert. Wer die Bausteine (Anandamid, 2-AG, CB1/CB2, Enzyme) und die Funktionsweise (retrograde Bremse) versteht, versteht auch besser, warum manche Situationen eskalieren – und wie der Körper selbst dagegensteuert.
Beim Hund gelten spezielle Sicherheitsaspekte. Darum: keine Eigenexperimente, immer tierärztlich begleitet vorgehen.
12) Hinweis & Disclaimer
Dieser Beitrag dient der Aufklärung über das körpereigene Endocannabinoid-System (ECS) bei Tieren. Er ersetzt keine Diagnose, Beratung oder Therapie durch Tierärzt*innen. Gib deinem Tier niemals eigenmächtig Substanzen mit psychotroper Wirkung.
Kläre vorher immer Anwendungsgebiet, Dosierung, Qualität, Wechselwirkungen und Risiken medizinisch ab.
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