Cannabis ist eine der vielseitigsten Pflanzen überhaupt. Schon seit Jahrhunderten wird sie für unterschiedlichste Zwecke genutzt: von Faser- und Nahrungsmittelproduktion über medizinische Anwendungen bis hin zum Freizeitgebrauch. Was viele Konsumentinnen, aber auch Anbauerinnen überrascht: Selbst Pflanzen aus derselben Sorte können völlig verschieden aussehen, riechen, schmecken und wirken. Diese Vielfalt wird in der Fachsprache als Phänotypen bezeichnet.
Phänotypen bei Cannabis sind die sichtbaren und messbaren Eigenschaften einer Pflanze. Sie ergeben sich aus der Kombination von genetischem Bauplan (Genotyp) und äußeren Einflüssen (Umwelt). Wer sich mit Anbau, Züchtung oder Konsum beschäftigt, kommt an diesem Thema nicht vorbei. Ein fundiertes Verständnis von Phänotypen hilft, Sorten besser einzuordnen, Qualitätsmerkmale zu erkennen und Zuchtziele klar zu definieren.
Begriffe sauber trennen: Genotyp, Phänotyp, Chemotyp
Um Missverständnisse zu vermeiden, lohnt es sich, die wichtigsten Begriffe genau zu unterscheiden:
- Genotyp: Er ist das genetische Grundgerüst einer Pflanze, also die Gesamtheit der Erbinformationen. Der Genotyp legt fest, was eine Pflanze potenziell kann, ähnlich wie ein Bauplan. Doch wie genau diese Gene zum Vorschein kommen, ist noch offen.
- Phänotyp: Das, was wir tatsächlich sehen, riechen oder messen können. Ein Phänotyp ist also die reale Ausprägung der genetischen Informationen unter bestimmten Umweltbedingungen. Dazu gehören Dinge wie die Blütenfarbe, der Geruch, die Form der Blätter, die Blühdauer oder auch das Verhältnis von Cannabinoiden.
- Chemotyp: Während der Phänotyp die gesamte äußere Erscheinung umfasst, bezieht sich der Chemotyp speziell auf die chemische Zusammensetzung. Hier geht es vor allem um Cannabinoide wie THC, CBD oder CBG und ihr jeweiliges Verhältnis zueinander.
Wichtig ist: Derselbe Genotyp kann mehrere Phänotypen hervorbringen. Deshalb sind Phänotypen für Grower und Züchter so spannend – man weiß nie, wie eine Pflanze sich letztlich entwickeln wird, bis man sie selbst kultiviert und analysiert.

Terpene, Cannabinoide & Entourage: Warum Chemie zählt
Cannabis ist nicht nur eine Pflanze, sondern ein wahres Chemielabor. Neben den bekannten Cannabinoiden wie THC oder CBD enthält die Pflanze hunderte weitere Stoffe. Besonders wichtig sind dabei die Terpene.
- Terpene sind Aromastoffe, die den unverwechselbaren Geruch und Geschmack von Cannabis prägen. Sie kommen auch in vielen anderen Pflanzen vor: Limonen in Zitrusfrüchten, Myrcen in Hopfen, Pinen in Kiefern.
- Cannabinoide sind die pharmakologisch aktiven Substanzen wie THC, CBD, CBG oder CBN. Sie binden an Rezeptoren im menschlichen Endocannabinoid-System und lösen so spezifische Wirkungen aus.
Das Zusammenspiel von Cannabinoiden und Terpenen führt zum sogenannten Entourage-Effekt. Dieser besagt, dass die Kombination verschiedener Substanzen eine andere Wirkung entfaltet als einzelne isolierte Stoffe. Deshalb können zwei Pflanzen mit identischem THC-Gehalt völlig unterschiedlich wirken: Der eine Phänotyp macht entspannter, der andere wacher – abhängig vom Terpenprofil.
Für Züchter*innen bedeutet das: Nicht nur der Cannabinoidgehalt ist entscheidend, sondern das gesamte chemische Profil.
Warum Indica/Sativa als Etikett kaum hilft
Lange Zeit wurden Cannabissorten grob in Indica und Sativa eingeteilt. Indica wurde mit entspannenden, körperbetonten Effekten verbunden, Sativa mit aktivierenden und kopflastigen Wirkungen. Doch die Realität ist weitaus komplexer.
Moderne genetische Studien zeigen: Diese Einteilung ist wissenschaftlich kaum haltbar. Viele Sorten, die als „Sativa“ oder „Indica“ verkauft werden, sind genetisch Mischungen und passen nicht in das alte Schema. Die Wirkung einer Pflanze hängt weit stärker von Chemotyp und Terpenprofil ab als von ihrem vermarkteten Etikett.
Das heißt: Eine Sorte, die als „Indica“ verkauft wird, kann ein sehr aktivierendes Terpenprofil haben – und umgekehrt. Für Konsument*innen wie für Grower ist es deshalb zielführender, Laboranalysen oder sensorische Profile heranzuziehen, statt sich auf die traditionellen Bezeichnungen zu verlassen.
Umweltfaktoren und phänotypische Plastizität
Ein Schlüsselaspekt bei Phänotypen ist die sogenannte phänotypische Plastizität. Damit beschreibt man, wie stark eine Pflanze auf ihre Umweltbedingungen reagiert. Cannabis ist in dieser Hinsicht besonders flexibel.
Wichtige Einflussfaktoren:
- Licht: Intensität, Dauer und Spektrum bestimmen maßgeblich Wachstum, Blütenbildung und Harzproduktion. Pflanzen unter LED mit Vollspektrum entwickeln oft andere Terpenprofile als unter Natriumdampflampen oder Sonnenlicht.
- Temperatur und Luftfeuchtigkeit: Ein ausgewogenes Klima sorgt für gesunde Blütenentwicklung. Zu hohe Temperaturen können Terpene zerstören, während zu niedrige Luftfeuchtigkeit Schimmelrisiken mindert, aber Stress auslösen kann.
- Nährstoffe und Substrat: Die Art und Menge der Nährstoffe sowie das Medium (Hydro, Erde, Kokos, Living Soil) beeinflussen Wachstum und chemisches Profil enorm.
- Stressfaktoren: Unerwartete Einflüsse wie starke Temperaturwechsel, Wasserstress oder Lichtlecks können die Pflanze belasten und in manchen Fällen sogar Hermaphroditismus hervorrufen.
Das bedeutet: Selbst Klone, die genetisch identisch sind, können in unterschiedlichen Umgebungen verschiedene Phänotypen zeigen.
Morphologische Merkmale eines Phänotyps
Phänotypen werden in erster Linie durch sichtbare Eigenschaften beschrieben. Dazu gehören:
- Wuchsform: Manche Pflanzen wachsen hoch und schmal, andere buschig und kompakt.
- Blühdauer: Während manche Phänotypen nach 7 Wochen reif sind, brauchen andere 10 oder mehr Wochen.
- Blattstruktur: Schmale, sativa-ähnliche Blätter vs. breite, indica-ähnliche Blätter.
- Blütenstruktur: Dichte, kompakte Buds oder eher luftige, offene Blüten.
- Farbvariationen: Manche Phänotypen entwickeln violette, rote oder fast schwarze Töne, vor allem bei kühlen Temperaturen.
- Harzproduktion: Trichomdichte und Harzqualität können stark variieren.
Diese Unterschiede sind nicht nur für die Optik interessant. Sie haben direkten Einfluss auf Ertrag, Verarbeitung und das Endprodukt.
Chemotypen im Überblick
Die Einteilung in Chemotypen ist ein nützliches Werkzeug, um die Vielfalt von Cannabis zu ordnen:
- Chemotyp I (THC-dominant): Pflanzen mit sehr hohem THC-Gehalt und niedrigem CBD-Anteil. Typisch für Freizeitgebrauch und viele medizinische Anwendungen.
- Chemotyp II (Ausgeglichen): Pflanzen mit ungefähr gleichen Anteilen von THC und CBD. Sie bieten ein balancierteres Wirkungsspektrum.
- Chemotyp III (CBD-dominant): Pflanzen mit hohem CBD-Gehalt und sehr wenig THC. Oft als Nutzhanf oder für Wellnessprodukte verwendet.
- Chemotyp IV (CBG-dominant): Noch selten, aber zunehmend gezüchtet. Im Fokus der Forschung.
- Chemotyp V (cannabinoidarm): Enthalten kaum messbare Cannabinoide, spielen vor allem in der Industrie eine Rolle.
Das Verhältnis ist genetisch bedingt, kann aber durch Umweltbedingungen in der genauen Ausprägung variieren.

Pheno-Hunting in der Praxis
Pheno-Hunting ist für Züchter*innen einer der spannendsten und wichtigsten Prozesse. Dabei geht es darum, aus einer Gruppe von Pflanzen die besten Individuen herauszufiltern.
Der Ablauf:
- Ziel festlegen: Was soll erreicht werden? Geht es um Ertrag, Aroma, Wirkung, Resistenz gegen Schimmel oder eine bestimmte Blühdauer?
- Große Population starten: Je mehr Pflanzen gezogen werden, desto größer ist die Auswahl.
- Beobachten und dokumentieren: Von Anfang an sorgfältig auf Wuchsform, Blätter, Geruch und Blütenstruktur achten. Notizen und Fotos helfen enorm.
- Stecklinge sichern: Schon in der frühen Wachstumsphase sollten Stecklinge genommen werden, damit interessante Phänotypen erhalten bleiben.
- Auswahl treffen: Nach der Blüte werden die Pflanzen verglichen – optisch, aromatisch und, wenn möglich, analytisch.
- Retests machen: Die besten Kandidaten werden erneut angebaut, um zu prüfen, ob die Eigenschaften stabil bleiben.
P
heno-Hunting erfordert Geduld, Planung und viel Liebe zum Detail. Am Ende entsteht daraus aber eine Mutterpflanze, die konstant die gewünschten Eigenschaften liefert.
Stabilisierung von Linien
Hat man einen passenden Phänotyp gefunden, geht es im nächsten Schritt darum, diese Eigenschaften dauerhaft zu sichern. Dafür nutzen Züchter verschiedene Strategien:
- F-Generationen (F1, F2, F3 …): Durch wiederholte Kreuzungen innerhalb einer Linie wird nach und nach Stabilität erreicht.
- Selbstung (S1): Eine Pflanze wird mit sich selbst bestäubt. Das festigt Eigenschaften, kann aber auch zu Inzuchtproblemen führen.
- Backcross (BX): Rückkreuzung mit einem Elternteil, um bestimmte Eigenschaften gezielt zu verstärken.
- IBL (Inbred Line): Nach vielen Generationen konsequenter Selektion entsteht eine stabile Linie mit sehr homogener Nachkommenschaft.
Ziel ist es, aus einem besonderen Phänotyp eine verlässliche Sorte zu entwickeln, die bei jeder Aussaat möglichst einheitliche Ergebnisse liefert.
Fazit
Phänotypen sind das Bindeglied zwischen Genetik und Umwelt. Sie erklären, warum Pflanzen aus derselben Sorte völlig unterschiedlich aussehen, riechen oder wirken können. Für Anbauerinnen und Züchterinnen sind sie der Schlüssel zu Qualität, Konsistenz und Innovation.
Wer Cannabis verstehen will, sollte sich weniger auf Sortennamen oder Indica/Sativa-Labels verlassen, sondern auf Chemotyp, Terpenprofil und phänotypische Ausprägungen achten. Nur so lässt sich die wahre Vielfalt dieser Pflanze erfassen – und gezielt nutzen.
Häufige Fragen zu Phänotypen bei Cannabis (FAQ)
Warum riechen zwei Pflanzen derselben Sorte unterschiedlich?
Das liegt an den Phänotypen. Auch wenn die Samen aus derselben Packung stammen, können sich die Pflanzen unterschiedlich entwickeln. Faktoren wie Licht, Temperatur, Nährstoffe und Mikrobiom beeinflussen, welche Gene stärker oder schwächer zum Ausdruck kommen. Dadurch entstehen Abweichungen im Terpenprofil – und damit ein anderer Geruch.
Können Klone unterschiedliche Phänotypen haben?
Ein Klon trägt exakt denselben Genotyp wie die Mutterpflanze. Er hat also das gleiche Potenzial. Trotzdem kann er in einer anderen Umgebung leicht unterschiedlich aussehen oder riechen. Diese Abweichungen sind keine neuen Phänotypen im genetischen Sinn, sondern Ausprägungen derselben Anlage unter veränderten Bedingungen.
Wie viele Pflanzen braucht man für ein sinnvolles Pheno-Hunting?
Für ein ernsthaftes Pheno-Hunting sind mindestens 20–30 Pflanzen einer Genetik empfehlenswert. Profis arbeiten oft mit 50–100 Pflanzen, um die volle Bandbreite der Variation sichtbar zu machen. Je größer die Auswahl, desto höher die Wahrscheinlichkeit, einen außergewöhnlichen Phänotyp zu finden.
Warum ist das Verhältnis von THC und CBD so wichtig?
Das Verhältnis der Cannabinoide bestimmt den Chemotyp einer Pflanze. Ob eine Sorte eher berauschend, ausgleichend oder kaum psychoaktiv wirkt, hängt maßgeblich davon ab. Für medizinische Anwendungen sind besonders Chemotyp II (ausgeglichen) und Chemotyp III (CBD-dominant) interessant.
Wie erkenne ich einen „guten“ Phänotyp?
Ein guter Phänotyp hängt von den Zielen ab. Für manche ist es ein hoher Ertrag, für andere ein einzigartiges Aroma oder eine kurze Blütezeit. Allgemein gilt: Stabilität, Gesundheit, kräftiger Wuchs, dichter Blütenaufbau, starker Harzbesatz und ein attraktives chemisches Profil sind Zeichen für einen hochwertigen Pheno.
Kann Stress den Phänotyp verändern?
Ja. Stress durch Hitze, Kälte, Nährstoffmangel, Lichtlecks oder Trockenheit kann dazu führen, dass bestimmte Gene anders abgelesen werden. Das wirkt sich auf Aussehen, Aroma und Harzproduktion aus. Starker Stress kann sogar Hermaphroditismus auslösen – also die Bildung männlicher Blüten an einer weiblichen Pflanze.
Wie lange dauert es, eine Linie zu stabilisieren?
Die Stabilisierung hängt von der Zuchtmethode ab. Mit Selbstungen (S1) oder Backcrosses (BX) geht es schneller, aber Inzuchtprobleme sind möglich. Um eine wirklich stabile Linie (IBL) zu schaffen, brauchen Züchter oft 6–8 Generationen konsequenter Selektion. Das kann mehrere Jahre dauern.
Was ist wichtiger: Optik oder Chemie?
Die Chemie. Eine Pflanze kann wunderschön aussehen, große Blüten tragen und viel Ertrag bringen – wenn aber das Cannabinoid- und Terpenprofil nicht überzeugt, ist sie für viele Zwecke wertlos. Für Konsument*innen und die Medizin sind Chemotyp und Terpenprofil ausschlaggebend. Die Optik ist eher ein Bonus.
